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Projektleiter Boris Vieten
Erkennen - Bewerten - Handeln
Wie können Amoktaten wie am Kiepenkerl in Münster frühzeitig erkannt und verhindert werden? Das Konzept „PeRiskoP“ geht das Problem landesweit an.
Streife-Redaktion

Trier, 1. Dezember 2020. Ein 52-jähriger Mann rast mit seinem Wagen durch die Fußgängerzone. Bei der Amokfahrt kommen fünf Menschen ums Leben. Dutzende werden verletzt, von rund 300 Traumatisierten ist die Rede. Wie konnte das passieren? Gab es keine Warnzeichen?

Seit mehreren Jahren befasst sich die Polizei Nordrhein-Westfalen mit solchen Fragen. Nicht nur in der Abteilung 3 (Allgemeinkriminalität), sondern auch in den Staatsschutzabteilungen im LKA NRW und in anderen Sicherheitsbehörden im Bund macht man sich zeitgleich Gedanken darüber, wie solche Taten verhindert werden können. Daher fand hier ein intensiver Austausch statt. Unter anderem die Taten aus Trier, am Kiepenkerl in Münster, in Hanau und in Würzburg haben noch einmal für eine „extreme Beschleunigung“ der Arbeit an einem Projekt gesorgt, das „PeRiskoP“ heißt und im Landeskriminalamt gesteuert wird, wie Projektleiter Boris Vieten sagt. Wenige Monate nach der Amoktat an der Mosel ging deshalb „PeRiskoP“ in Münster, Bielefeld und Kleve in den erfolgreichen Pilotbetrieb. Die Abkürzung steht für „Personen mit Risikopotenzial“.

Das neuartige Konzept zur Früherkennung dieser Personen und zum Umgang mit ihnen ist stark an der Prüffallbearbeitung im Bereich der politisch motivierten Kriminalität angelehnt. Es wird in einer dreijährigen Implementierungsphase in 47 Kreispolizeibehörden Nordrhein-Westfalens mit einer Zentralstelle im LKA umgesetzt. Risikoträchtige Personen sollen frühzeitig erkannt werden – auch losgelöst von politischen oder religiösen Motiven. „Mit PeRiskoP können wir potenzielle Amokläufer nun landesweit leichter aufspüren“, sagt Innenminister Herbert Reul. „Natürlich gibt es keine hundertprozentige Sicherheit, aber wir hoffen, durch PeRiskoP bereits im Verdachtsfall eingreifen und so das Risiko schwerer Gewalttaten minimieren zu können.“ Ergänzend hierzu merkt Vieten an: „Eine hundertprozentige Sicherheit kann es wegen der Dynamik insbesondere bei Amok nie geben. Die Täterinnen und Täter befassen sich oftmals jahrelang in Gedanken mit dem Thema. So sind es manchmal kleinste und nicht kalkulierbare Gründe, die dann von den Gedanken zur Tat führen. Aber: Mit PeRiskoP leisten wir als Polizei Nordrhein-Westfalen einen wichtigen Beitrag zur Risikominimierung und zur Verbesserung der Zusammenarbeit wichtiger Netzwerkpartner. Letztlich zählt dabei eine Sache: Jedes Opfer ist eines zu viel und wir können jeden Tag besser werden.“

Neben Trier waren die Amokfahrten in Hamm und Berlin besonders schwere Fälle, die die Aufmerksamkeit auf diese besondere Form der Gewaltkriminalität lenkten. Vieten nennt auch den Anschlag im neuseeländischen Christchurch als Beispiel sowie die Attacken im Regionalzug bei Herzogenrath und die Schüsse eines Mannes in Rommerskirchen im Rhein-Kreis Neuss auf Nachbarn vor wenigen Wochen.

„Deutlich anders zu bewerten“ sind für Vieten freilich die Amokläufe an Schulen in den Vereinigten Staaten – wie zuletzt an der Robb Elementary School in Uvalde, Texas. Die „viel größere Verfügbarkeit von Waffen in den USA“ komme hier als wesentliche Komponente hinzu. Dennoch gebe es eine entscheidende Verbindung nach Nordrhein-Westfalen – die mediale Berichterstattung. Nach dem Amoklauf an der Robb Elementary School war festzustellen, dass die Tat in Deutschland medial regelrecht ausgeschlachtet wurde. „Hier fehlt es deutlich an einem Pressekodex – wie bei Suiziden.“ Warum das kritisch ist, erläutert Vieten: „So eine Berichterstattung kann potenziellen Amoktätern als eine Art Zündplättchen dienen. Und was dann im Kopf der Person passiert, kann die Polizei eben nicht sehen. Diese breite mediale Befassung ist ein erheblicher Risikofaktor.“

„Oftmals sind die Täter polizeilich bekannt und psychisch auffällig“, sagt Vieten. „Wobei klar sein muss, dass eine psychische Erkrankung niemals für Gefährlichkeit steht. Das ist statistisch und wissenschaftlich sogar widerlegbar. Vielmehr sind es einige wenige Krankheitsbilder und beispielsweise bereits erlebte Gewalterfahrungen, die das Risiko erhöhen.“

Eine psychische Erkrankung führe statistisch gesehen eher dazu, dass jemand Opfer und nicht Täter einer Gewalttat wird. Zudem seien viele noch nicht als Gewalttäter in Erscheinung getreten. Es ist also wichtig, Stigmatisierungen zu verhindern und die Warnsignale zu erkennen und richtig zu deuten. Mitunter fehlten dafür jedoch die entscheidenden Verbindungen und Kommunikationswege zwischen verschiedenen Institutionen. Was etwa macht eine Mitarbeiterin im schulpsychologischen Dienst, wenn sie Anzeichen wahrnimmt? An wen wendet sie sich? Hier gab es bereits aus abgeschlossenen Projekten in der Vergangenheit die Empfehlung, bei der Polizei Strukturen zu schaffen. Genau das macht „PeRiskoP“ für eine verantwortungsvolle Aufgabenwahrnehmung der Risikominimierung jetzt.

Während der Testphase in Kleve, Münster und Bielefeld wurden 66 Prüffälle bearbeitet. Darunter war ein junger Mann, der wiederholt Bücher zum Thema „Amok“ ausgeliehen hatte. Im Internet hatte er in der Vergangenheit bereits Amoktaten angedroht. Durch „PeRiskoP“ wurde die Polizei auf den Fall hingewiesen.

Sie konnte frühzeitig Informationen zusammenführen und Netzwerkpartner einbinden. Eine Fehleinschätzung aufgrund mangelnder Informationen oder unvorhersehbarer Kurzschlussreaktionen ist jedoch nie gänzlich auszuschließen. So konnte der junge Mann leider nicht daran gehindert werden, mit Schreckschusspistole, Molotow-Cocktail und Messer bewaffnet in ein Berufskolleg zu gehen. Glücklicherweise konnte er durch die Polizei überwältigt und festgenommen werden, ohne dass jemand verletzt wurde.

Bei der Risikobewertung nimmt die Polizei einen Kriterienkatalog zur Hilfe, anhand dessen Risiko- und Schutzfaktoren betrachtet werden, die für den Sachverhalt relevant sein können. Wenn eine Person sich gewaltbereit oder waffenaffin in Verbindung mit psychisch auffälligem Verhalten zeigt, kann „PeRiskoP“ eingesetzt werden. In gemeinsamen Fallkonferenzen beraten Polizei und weitere Behörden wie Schulen, Gesundheitsämter oder psychiatrische Einrichtungen über das Risikopotenzial und besprechen das langfristig angelegte, stabilisierende Vorgehen.

Die Risikobewertung erfolgt dabei in allen 47 Kreispolizeibehörden bei einer hauptamtlichen Sachbearbeitung. Kommt es zu „Hoch-Risiko-Fällen“, so ist zukünftig die Zentralstelle „PeRiskoP“ im LKA NRW für Risikoanalysen ansprechbar. Mitglieder sind dort erfahrene Polizistinnen und Polizisten sowie Psychologinnen und Psychologen.

 

Ziele des Konzepts sind:
  • Verbesserung der Früherkennung von Personen mit Risikopotenzial, dadurch Minimierung des Risikos schwerer Gewalttaten
  • Etablierung einer strukturierten und qualifizierten Prüffallbearbeitung mit einem ganzheitlichen, interdisziplinären Ansatz. Dabei werden alle rechtlichen und gefahrenabwehrenden/-präventiven Möglichkeiten ausgeschöpft.
  • Enge Zusammenarbeit mit örtlichen Netzwerkpartnern in Fallkonferenzen und bei „Runden Tischen“
  • Verstärkter Blick auf (psychisch) auffällige Personen mit Risikopotenzial, losgelöst von gefestigter politischer oder religiöser Ideologie
  • Professionelle Risikoanalyse durch die Zentralstelle „PeRiskoP“

Der Austausch zwischen den Behörden erfolgt selbstverständlich im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben, insbesondere des Datenschutzes.

Die Polizei ist nicht allein in der Verantwortung. Sie wird bisher oft erst bei Vorliegen einer Straftat oder einer konkreten bzw. gegenwärtigen Gefahr tätig. Die Kompetenzen der Polizei müssen durch die Kompetenzen verschiedener Netzwerkpartner ergänzt werden, um ganzheitlich handeln zu können. Im Konzept „PeRiskoP“ kann sie, in Zusammenarbeit mit anderen Institutionen, noch vor einer Straftat reagieren – etwa durch Anstoßen einer Familienberatung oder psychosozialer Unterstützung. Es ist eine gemeinsame Aufgabe, die nur in der Bündelung unterschiedlicher Kompetenzen gelingt.

Wer generiert denn eigentlich die Prüffälle? „Das ist unser aller Aufgabe“, so Vieten. Es gibt eine Handreichung (Orientierungshilfe), allerdings soll ein Prüffall möglichst niederschwellig (also beim ersten Gedanken) gefertigt werden. Im Zweifel: lieber schreiben. Wichtig ist auch, dass allen Hinweisen „von außen“ immer mit Ernsthaftigkeit begegnet wird.

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