Polizeinotruf in dringenden Fällen: 110

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Unbegrenzte Möglichkeiten: Einsatztrainerinnen und -trainer betreten technologisches Neuland.
Getroffen ist getroffen.
Unbegrenzte Möglichkeiten: Einsatztrainerinnen und -trainer betreten technologisches Neuland.
Streife-Redaktion

Die Anweisung wird direkt auf die Ohren gespielt. „Anschlag in einem Möbelhaus.“ Alle verfügbaren Kräfte sind alarmiert. Mehrere Unbekannte haben das Feuer auf Kundschaft und Personal eröffnet. Ein Vierer-Team bereitet sich auf den Einsatz vor. Ein letzter Check: Die Koppeln mit den Waffen sind angeschnallt. Eng liegen die schussfesten Plattenträger am Körper. Ein Gurt unterhalb der Brust misst die Herzratenvariabilität (HRV) – also das Stresslevel. Auf den Rücken der Frauen und Männer hängen Rucksäcke mit Computern. Sie zeichnen ab jetzt alle Aktionen auf. Auf geht’s, das schwarz uniformierte Quartett taucht in Echtzeit in eine interaktive Welt ein. Noch einmal prüft Sven Galant, der verantwortliche Einsatztrainer, ob die am Helm befestigten VR-Brillen gut sitzen. VR steht für Virtual Reality. Vorsichtig bewegen sich die Polizeibeamtinnen und -beamten mit gezogener Schusswaffe. Der Trupp deckt 360 Grad ab. Aus allen Richtungen kann die Gewalt hereinbrechen. Nur keinen Fehler machen. Die Aufgabe für das Team heißt: richtiges Verhalten bei extremer Gefahr in unterschiedlichen Belastungsstufen einüben.

Wir sind in einer Turnhalle beim Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei NRW (LAFP NRW) in Selm.

Im Verlauf von zwei Tagen werden drei Dutzend Einsatztrainerinnen und -trainer aus Nordrhein-Westfalen in einer neuen Methode fit gemacht, die einen Quantensprung in der polizeilichen Aus- und Fortbildung bedeutet. Die VR-Übung ist Teil des EU-Projekts SHOTPROS, das bis November läuft. Danach werden die Ergebnisse ausgewertet. Neben NRW und Berlin nehmen auch Polizeibehörden in den Niederlanden, Belgien, Schweden und Rumänien teil. Mehrere europäische Universitäten begleiten das Projekt wissenschaftlich.

Untersucht wird, wie sich Stress auf die Handlungsfähigkeit auswirkt. Ziel des Projekts ist eine standardisierte Erweiterung des europäischen Polizeitrainings durch VR-Technologie, um vor allem Entscheidungen in Hochrisikosituationen zu verbessern. 5,6 Millionen Euro hat Brüssel den Partnern in den einzelnen Staaten dafür zur Verfügung gestellt. Für die Polizei NRW dient die Teilnahme am Projekt auch dazu, Erfahrungen mit dem Einsatz von VR in der Aus- und Fortbildung zu gewinnen.

Die Technikplattform entwickelt hat das Unternehmen RE-liON aus Enschede, das seit Langem mit der niederländischen Polizei kooperiert. Auf einem großen Monitor am Rande der Trainingshalle läuft das Szenario mit, in dem sich Fiktion und Wirklichkeit verbinden. Jeder Schritt wird registriert und eingebettet in die virtuelle Realität. Die Teilnehmer wirken auf dem Bildschirm wie Akteure in einem Comic-Drama: digital animiert und dramatisch.

 

"Als du den Kopf durch die Tür gesteckt hast, konnte dich der Täter klar erkennen." Sven Galant

Für die Polizistinnen und Polizisten fühlt sich jedoch alles total realistisch an. Fachleute nennen das Immersion. Die VR-Brillen katapultieren die Teilnehmer in ein dramatisches Geschehen. Die Trainingsgruppe ist jetzt komplett in ihrem Film und schleicht eine Hintertreppe hinauf. Ein digitalisierter Rollenspieler mischt sich plötzlich ein und brüllt: „Was wollt ihr hier?“ Eine Eskalation scheint kurz bevorzustehen. Die Interventionskräfte warten am Ende eines Treppenabsatzes. Auf der angrenzenden Etage haben sich die Täter offenbar verschanzt. Die Spannung ist sogar für Beobachter spürbar.

Nach kurzem Zögern lehnt sich der Einsatzleiter der Trainingsgruppe ein bisschen vor. Auf dem Sportfeld ist das nur eine winzige Drehung des Körpers. In der virtuellen Realität wird er sofort getroffen. Weitere Schüsse fallen. „Keine Bewegung oder ich schieße“, ruft jemand erregt in die Halle. Ein anderer fällt auf die Knie. Dann ist erst einmal Schluss. Die Trainingseinheit ist beendet.

 

"Wir wollen die Stärken stärken und die Schwächen schwächen." Ines Fiebig

„Zunächst habt ihr die Deckung konsequent eingehalten“, lobt Polizeihauptkommissar Sven Galant vom Ausbilderteam des LAFP das anfängliche Vorgehen in der Nachbesprechung. Normalerweise arbeitet er beim Polizeipräsidium Bochum als Einsatztrainer. Nun richtet er den Blick auf denjenigen, der in der Übung zum Opfer wurde. „Als du den Kopf durch die Tür gesteckt hast, konnte dich der Täter klar erkennen.“ Er habe ihn nicht gleich bemerkt, antwortet der Betroffene entschuldigend. Die VR-Brille sei verrutscht.

In jedem Fall war es ein Schock. Das Training macht deutlich, dass schon ein kleiner Fehler tödlich sein kann. Galants Kollegin Ines Fiebig hält die VR-Schulung für eine ideale Ergänzung des Realtrainings, das ja jeder schon in der Ausbildung kennengelernt hat. Die Polizeihauptkommissarin, eigentlich Einsatztrainerin bei der Kreispolizeibehörde Lippe, sieht im VR-Training die Zukunft. Es könne nicht mehr geschummelt werden. „Wenn du getroffen wurdest, wurdest du getroffen.“

Tatsächlich ist das System des „After-Action-Review“ unbestechlich. Für Ines Fiebig liegt darin eine große Chance. Jeder könne auf diese Weise sein Verhalten noch einmal checken und anschließend korrigieren. „Ob du gut gestanden hast oder den Raum hättest besser nutzen können, all das wird sehr deutlich.“

Dadurch kann schneller gelernt und mehr geübt werden. „Durch Wiederholung festigt sich dann die gewünschte Sicherheit in der Aktion. Im Notfall macht das stressresistenter“, erklärt die 35-Jährige. Keiner solle das Training mit einem schlechten Gefühl verlassen. „Wir wollen die Stärken stärken und die Schwächen schwächen“, fasst Ines Fiebig zusammen. Selbstbewusste Polizistinnen und Polizisten können in Ausnahmelagen bedrohte Menschen und sich selbst eindeutig besser schützen als andere, die die nackte Angst gepackt hat.

„Wir stehen erst am Anfang“, erläutert Diplom-Psychologe Ortwin Maetzing. „Aber in fünf Jahren wird das, was wir hier machen, üblich sein.“ Der wissenschaftliche Mitarbeiter des LAFP NRW für professionelles Leiten und Trainieren sieht ein enormes Potenzial für den Einsatz von Virtual Reality. „Studien haben gezeigt, dass der Lerneffekt größer ist, wenn der Stress steigt. Das bedeutet aber nicht, dass wir möglichst sofort die Stufe Rot ansteuern.“ Es sei oft sogar sinnvoll, die Belastung wieder zu verringern. „Wer panisch ist, lernt nichts mehr. Lerneffekt vor Wow-Effekt ist die Devise.“

Ganz wichtig sei die Kommunikation. Auf diese Weise lasse sich häufig eine heikle Einsatzsituation entschärfen. „Wir wollen Polizistinnen und Polizisten ausbilden, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind. Aber auch konsequent handeln, wenn es erforderlich wird.“

Eingebunden in das EU-Projekt SHOTPROS sind die Freie Universität Amsterdam, die Universität Heidelberg, die Katholische Universität Löwen und das Austrian Institute of Technology (AIT). „Wir arbeiten daran, die Szenarien noch realistischer zu gestalten“, erzählt der Münchener Jakob Uhl, der am AIT in Wien forscht und zur Feldstudie nach Westfalen gefahren ist, um die Trainingsabläufe unter die Lupe zu nehmen. „Wir wollen uns schließlich an den Bedürfnissen der Nutzer orientieren.“

Vieles lasse sich noch in die VR-Prozesse integrieren. „Zum Beispiel könnte man den Probanden einen Schmerzimpuls mit einem kurzen Stromstoß geben, wenn sie getroffen worden sind“, berichtet Uhl. Das würde sich etwa so anfühlen wie ein Insektenstich. Damit verstärke sich die Bedrohlichkeit der Situation. „Wir haben auch ein Verfahren entwickelt, mit dem unangenehme Gerüche – Fäkalien, Rauch oder Benzin – in die Abläufe eingespeist werden können.“

 

"Das bedeutet aber nicht, dass wir möglichst sofort die Stufe Rot ansteuern." Ortwin Maetzing

„Wir experimentieren noch“, kommentiert Alexander Schäfer. Er ist der Koordinator für das EU-SHOTPROS-Projekt beim LAFP NRW. „Wir wollen guten Stress für ein optimiertes Training erzeugen“, so der Polizeihauptkommissar. „Wir sind keine Egoshooter, die hier zum Vergnügen Ballerspiele veranstalten.“ Es gehe einzig und allein um die Verbesserung der Aus- und Fortbildung. „Es gibt strenge Regeln. Nie darf ohne Grund geschossen werden.“

Die Polizistinnen und Polizisten dürften nicht die natürliche Hemmung beim Gebrauch der Waffe verlieren, hebt der 48-jährige Dortmunder hervor. Es sei sehr erfreulich, dass sich bislang alle in den VR-Szenarien bewährt hätten und verantwortungsvoll vorgegangen seien. Kein Unbeteiligter sei von einem Polizisten getroffen worden. „Das sehen wir heute bei der Schulung der extrem fitten Einsatztrainer und haben es genauso vor ein paar Monaten mit Angehörigen einer Hundertschaft erlebt.“ Alexander Schäfer sieht darin einen Beleg für den generell guten Ausbildungsstand. „Wir müssen einen kühlen Kopf bewahren und doch aktionsfähig bleiben“, definiert er das übergeordnete Ziel.

Auf dem weitläufigen LAFP-Gelände fahren wir nun mit dem Polizeihauptkommissar zu einem bereits bestehenden, regulären Trainingsgebäude. Es wurde vor einigen Jahren nach dem islamistischen Terror in Paris ertüchtigt. Der ehemalige Verladebahnhof der Bundeswehr wirkt jetzt wie ein großes, kulissenhaftes Einkaufszentrum mit Kino, Geschäften und Kneipen. Gerade trainieren Polizisten des PP Bochum mit regulären Farbmarkierungswaffen unter strenger Beachtung der Sicherheitsvorkehrungen.

„Das Problem ist, dass du Einsätze in einer großen Menschenmenge gar nicht wirklich physisch abbilden kannst“, erläutert Alexander Schäfer. Dazu wären unzählige Rollenspieler nötig. „Das ist kaum machbar, enorm zeitintensiv und sehr teuer.“ Dennoch blieben die direkte körperliche Aktion und der unmittelbare Kontakt ein wesentlicher Bestandteil der Aus- und Fortbildung. Das Realtraining solle ergänzt, nicht aber ersetzt werden. „Mit VR schaffst du immer wieder Neues und kannst aktuelle Ereignisse einpflegen. Das verhindert eine Abstumpfung durch Gewöhnung“, resümiert der LAFP-Projektkoordinator. Selbst kleine Behörden könnten große Lagen inszenieren.

Bis zum Ende des Projekts im November soll dazu von internationalen Fachleuten noch ein didaktisches Regelwerk formuliert werden. Alexander Schäfer und Ortwin Maetzing vom LAFP NRW wurden um Mitwirkung gebeten. „Einiges“, so Schäfer, „haben wir offenbar schon richtig gemacht.“ Die im Rahmen des EU-Projekts gewonnenen Erfahrungen seien sehr wertvoll, heißt es dazu aus dem Innenministerium. „Wir verfolgen das EU-Projekt mit großem Interesse weiter!“, resümiert Tom Nissing vom Referat für Aus- und Fortbildung der Polizei NRW.

In dringenden Fällen: Polizeinotruf 110